„Unser täglich Brot“
„Feste und Geburtstage, wie immer.“, sagt Farahnaz Sharifi irgendwann im ersten Drittel ihres 2024 mit dem Roman Brodmann Preis ausgezeichneten Filmessays „My Stolen Planet“. Sie steht in einem kleinen Geschäft, das gebrauchte Foto- und Filmkameras, Elektrogeräte und alte Super-8mm Filmrollen verkauft. Dabei hält sie eine der Rollen in der Hand und betrachtet den abgewickelten Film durch eine Lupe.
Feste und Geburtstage, das ist tatsächlich das tägliche Brot eines Amateurfilmarchivs. Doch nicht oft ist die Bergung von privaten Quellen politisch so aufgeladen wie im Iran, wo Sharifis Film entstanden ist.
Ein Land, zwei Planeten
Der titelgebende „gestohlene Planet“ ist Sharifis Privatleben als Gegensatz zu den Umwälzungen der iranischen Revolution. Ihr Schlüsselerlebnis: Weibliche Personen waren plötzlich gezwungen, ab dem Zeitpunkt, an dem sie die Schwelle des familiären Raumes verlassen, den Hidschab zu tragen. Dieser Kontrast manifestiert sich in einem privaten Filmarchiv, das sie als junge Frau und Absolventin einer Filmhochschule in Second Hand-Läden und auf Flohmärkten zu sammeln begann: Super-8 Filme, zurückgelassen von Familien, die das Land verlassen haben bzw. verlassen mussten. Darauf zu sehen sind unbeschwerte Familienszenen vor der islamischen Revolution 1979. Es wird vor allem viel getanzt – was unter dem Mullah-Regime verboten wurde. Während Sharifi 2022 im Rahmen eines „Artist in Residence“ Programms in Deutschland weilt, wird ihre Wohnung (wie die vieler ihrer befreundeten Dokumentarfilmerinnen) durchsucht und das Archiv von der Schutzpolizei beschlagnahmt.
Der andere Planet ist der Alltag von Frauen im Iran. Frauen, die auf der Straße stets einen Hidschab tragen müssen. Die kein Fußballstadion besuchen dürfen. Die in der Öffentlichkeit nicht tanzen dürfen. Und vielen anderen Einschränkungen ausgesetzt sind. Sharifi kontrastiert ihren privaten Planeten der Freude und des Tanzens in der eigenen, abgedunkelten Wohnung mit dem öffentlichen Planten des Regimes: dem der Lüge und des Todes. In ihrer Montage verwendet sie Handyvideos, ihre eigenen und die von Freund:innen und Bekannten, um die Proteste von 2008, 2019 und 2022 zu zeigen. Auf diese Weise versammelte sie zahlreiche Stimmen, die laut und selbstbewusst gegen das Vergessen des lebensfrohen, gleichberechtigten Iran aufbegehren.
Die politische Dimension von Privatfilmen
„My Stolen Planet“ beginnt äußerst eindrücklich mit einer Rückblende auf den 8. März 1979: zum einen der Tag, an dem Tausende Iranerinnen kurz nach der Revolution gegen den von den Mullahs eingeführten Hidschabzwang auf die Straße gingen. Zum anderen der eigene Geburtstag der Regisseurin. Sharifi zeichnet das Bild einer Kindheit, die im Schutz der eigenen vier Wände frei und unbeschwert, in der Öffentlichkeit jedoch von Hass und Unterdrückung geprägt war. Sie erzählt davon, wie sie als Jugendliche das Filmen für sich entdeckte und später begann, sich auch für Privatfilme anderer Familien zu interessieren. So entsteht ein äußerst persönliches Bild all dessen, was Frauen seit der islamischen Revolution im Iran entbehren müssen. Sharifis Montage ist assoziativ, aber die wachsende Repression der vergangenen zehn Jahre klar benennend.
Farahnaz Sharifi erzählt in ihrem Film von einem Regime, das versucht, alle Aspekte des Privatlebens zu regulieren. Und damit jede private Handlung oder Äußerung zu einem politischen Statement macht. „My Stolen Planet“ beleuchtet diese Politisierung des Privaten mit vielfältigen Materialitäten: Den oft durch unsachgemäße Lagerung stark angegriffenen und auf einem qualitativ minderwertigen Konsumentenscanner digitalisierten Super-8mm Filmen. Den stark verpixelten Bildern alter Mobiltelefone. Und den hochauflösenden Bildern aktueller Digitalkameras. Dabei inszeniert die Regisseurin sich selbst stets als Chronistin ihrer Zeit. Nah dran an den Schüssen und Verletzten während der Demonstrationen, die mittlerweile 45 Jahre Freiheitskampf stets im Blick. Diese Unmittelbarkeit auf der einen und das klare Bekenntnis zur lediglich medial vermittelten Erinnerung auf der anderen Seite, erzeugen ein Spannungsfeld, das den Film weder sentimental noch reißerisch erscheinen lässt. Er bleibt stets das bewegende Zeugnis einer zerrissenen Realität.
Angaben zum Film: Eine Produktion von Jyoti Film GmbH: Anke Petersen, Lilian Tietjen, Farzad Pak, 2024. Länge: 86 Minuten. Autor & Regie: Farahnaz Sharifi. Musik: Atena Eshtiaghi. Kamera & Schnitt: Farahnaz Sharifi.