Ein Archivfund aus der Bibliothek für Zeitgeschichte
Am Anfang ist es nur eine Kiste mit 44 Filmrollen, einem Fotoalbum und Schwarz-Weiß-Negativen. Sie lagert in der Bibliothek für Zeitgeschichte Stuttgart. Niemand dort weiß etwas Genaues über die verbeulten Filmdosen – weder wann und von wem sie abgegeben wurden, noch was auf den 8-mm-Streifen zu sehen ist. Das Filmmaterial wird der Landesfilmsammlung Baden-Württemberg zur Digitalisierung und Langzeitarchivierung übergeben.
Auf den Spuren von Emil Brater
Die Sichtung am Schneidetisch verrät schnell, dass es sich um Aufnahmen eines Amateurfilmers handelt. Er hat Momente aus dem Familienleben festgehalten und insbesondere seinen Soldatenalltag dokumentiert. Doch erst eine Titelkarte in der sechzehnten Rolle bringt seinen Namen ans Licht: Emil Brater. Damit und mit einer versteckten Feldpostnummer beginnt die Suche. Bei der Sichtung der Digitalisate addieren sich weitere Hinweise. Eine mehrere Wochen andauernde Detektivarbeit führt in insgesamt 16 Institutionen, darunter Archive und Standesämter.
Allmählich ergeben die Puzzleteile ein Gesamtbild: Emil Braters Familie stammt aus Würzburg. Er hat zwei ältere Schwestern, Else und Marie, die eine Ärztin, die andere Büroangestellte. Emil ist Angehöriger der Wehrmacht. Das Material dokumentiert seine Soldatenzeit von 1936 bis 1942. Nach der Digitalisierung kann es nun von Wissenschaftlern genutzt werden oder in historischen Dokus Verwendung finden.
Ein Soldat mit touristischem Blick
Emil Brater beginnt den Wehrdienst 1936 in Schweinfurt in einem Lehr-Panzer-Regiment. Damals ist er 19 Jahre alt. Die Filmrolle „Bilder aus meiner Wehrdienstzeit“ gibt Einblick in seine Ausbildung bis 1938 und führt unter anderem nach Berlin und Wien. Häufig filmt er Paraden, auch zu Hitlers Geburtstag. Das Jahr 1939 ist im Material nicht eindeutig identifizierbar. Hinweise auf den Kriegsbeginn fehlen. Das Jahr 1940 ist in der Filmrolle „Frankreich“ dokumentiert.
Aufnahmen vom Soldatenalltag während der Feldzüge
Emils Regiment wird der 14. Panzer-Division unterstellt. Sie wird 1941 im Balkanfeldzug eingesetzt. Die Nummern auf den Panzern und die Truppenkennzeichen ermöglichen die Einordnung. Emil fährt im Panzer 635, oft hat er eine Pfeife im Mund. Gerne posiert er – mal mit Handgranate, mal Socken stopfend oder lesend. Ab 1941 folgen Etappen in Milowitz bei Prag, in Gleiwitz (Polen) und an verschiedenen Orten in Jugoslawien. Emil filmt ein Dorffest, handwerkliche Tätigkeiten, Kinder einer Roma-Siedlung. „Zigeuner“ steht auf der Titelkarte. Von Sarajevo geht es im Frühjahr 1941 kurz nach Berlin und dann Richtung Sowjetunion.
Über Luck (Luzk) durchbricht Emils Panzerdivision im Juni 1941 die Verteidigungslinien der Roten Armee bei Zwiahel und dringt bald über Schytomyr zum Fluss Dnepr vor. Nach schweren Kämpfen in Rostow am Asowschen Meer muss sie sich nach Kälteeinbrüchen Ende November 1941 zurückziehen. Emil hält die Ereignisse auf einem Film mit dem Titel „Der Weg nach Rostow“ fest.
Technikbegeisterung und das Fehlen einer Haltung
Die Filmbilder lassen vermuten, dass Emil eine große Begeisterung für Technik hat. Immer wieder wählt er Panzer, Flugzeuge und anderes Kriegsgerät als Motiv. Doch mit welchem Blick schaut er auf den Krieg? Ist es der verblendete Blick des NS-Anhängers oder der naive Blick eines jungen Mannes, der die Maschinerie des Krieges selbst kaum begreift? Auch Filmbilder, die getötete Rotarmisten oder Gefangene zeigen, lassen diesbezüglich keine Wertung zu. Sie transportieren keine Haltung. Er macht Aufnahmen von Gräbern gefallener Kameraden; die Angehörigen sollen wissen, dass sie ein „ordentliches“ Begräbnis erhalten haben.
Das Ende im Kessel von Stalingrad
Emils Verband wird der 6. Armee unterstellt und bewegt sich nun Richtung Stalingrad. Es ist Herbst 1942. Ab jetzt fehlen Informationen. Emil kann nicht mehr fotografieren und filmen – oder das Material nicht mehr nach Hause schicken. Im November gelingt es der Roten Armee, die deutschen Verbände in der Stadt einzukesseln. Im Januar 1943 sind die Reserven der Deutschen aufgebraucht, die verbliebenen Truppen nicht mehr kampffähig.
Das letzte Zeugnis von Emils Schicksal ist ein Brief, geschrieben von Sanitätsfeldwebel Hans Meyer – nach dem Krieg. Er ist an Emils Schwester Else Brater gerichtet und enthüllt, dass der Bruder in Stalingrad durch einen Granatsplitter am Bein schwer verwundet wurde und wenige Wochen später in russischer Gefangenschaft an Fleckfieber verstorben ist.